28.05.2020
„Komponieren und interpretieren“ – Näherungsversuche

Das Verhältnis zwischen dem Komponisten und dem Interpreten eines musikalischen Werks ist ambivalent. Einerseits haben wir zu den Werken etlicher verstorbener Komponisten so viele Fragen, die wir ihnen gerne stellen würden. Andererseits wissen wir, dass so gut wie alle Komponisten zeitlebens an ihren Werken weitergearbeitet haben und selten eine endgültige fertige Fassung erstellt haben. 

Einige wenige Beispiele: Bach hat während der Proben mit seinen Thomanern unter der Woche Änderungen an den Kantaten für den jeweils nächsten Sonntag vorgenommen; Mozart hat Stimmen nach der Erstaufführung weiter vervollständigt; Beethoven hat nach Aufführungen in dem jeweils neuesten Material immer weiter korrigiert; Von Bruckners Symphonien haben wir in vielen Fällen mindestens drei verschiedene Fassungen; Mahler hat als Dirigent seiner eigenen Werke auch immer wieder in seine eigenen Arbeiten eingegriffen (und als Operndirektor in Wien auch in die Werke von Beethoven, Brahms, Wagner etc.). 

Welche Antworten wir von den Komponisten erhalten würden, ist also sehr unklar – und erst recht, wie viel diese Antworten auf längere Sicht wirklich wert sind. 

Eine weitere Auffälligkeit tritt in Erscheinung, wenn wir Zeugnisse davon haben, wie Komponisten ihre eigenen Werke aufgeführt haben. Ich habe zwei Beispiele ausgesucht, die mir besonders gut gefallen. 

Mahler spielt Mahler und Stravinsky dirigiert Stravinsky. 

Dem habe ich jeweils eine aktuelle und höchst gelungene Einspielung gegenübergestellt. 

Von Mahler haben wir einige wenige „Notenrollen“, bei denen er seine eigenen Werke auf dem Klavier spielt, in diesem Fall den ersten Satz seiner 5. Symphonie. Die Notenrollen sind eine der frühesten Techniken zur akustischen Aufzeichnung von Musik (für Interessierte: https://de.wikipedia.org/wiki/Notenrolle) 

Mahler war ein gleichermaßen genialer Komponist wie Dirigent (so wie z.B. Mozart, Beethoven und Rachmaninov alle geniale Pianisten waren). Hier besteht zwischen Idee und Umsetzung also kein nennenswerter Unterschied in der Qualität. Die Vorstellungskraft und die Fähigkeit zur Umsetzung sind gleichermaßen gegeben. 

Interessant ist daher, welche Flexibilität im Tempo sich Mahler bei dieser Musik erlaubt, die er selbst mit „In gemessenem Schritt. Streng. Wie ein Kondukt“ überschrieben hat. Wir könnten aufgrund dieses Titels denken, dass der Satz ganz unerbittlich in einem Tempo gespielt werden müsste. Bei Mahler ist das Gegenteil der Fall. Berücksichtigen wir aber quasi die Methode der historischen Aufführungspraxis, wird schnell klar, dass wir auch Mahlers Begriffe „lesen können“ müssen: Mahler war Dirigent in Wien (wo „gleichmäßiges Metrum“ von Natur her ein Fremdwort ist) und Operndirigent, der also maximale Flexibilität im Orchestergraben gewohnt war und beherrschte wie kein anderer (vgl. Video letzter Woche). 

Als Vergleich und zum Erleben der eigentlichen Orchesterfassung habe ich eine großartige Einspielung mit den Berliner Philharmonikern unter Sir Simon Rattle herausgesucht. 

Mahler: (startet absichtlich in der Mitte des Videos – vorher kommen andere Werke) 

Rattle: 

Bei Stravinsky liegt der Fall etwas anders. Stravinsky dirigierte seine eigenen Werke zwar häufig, war aber kein besonders begabter Dirigent, wie wir von Orchestermusikern und Sängern wissen, die unter ihm musiziert haben. Seine Vorstellungskraft als Komponist muss allerdings immens gewesen sein. Man stelle sich vor, jemand hat diese Musik im Kopf und steht vor der verzweiflungsvollen Aufgabe, sie irgendwie zu Papier zu bringen! Gleichzeitig hat Stravinsky als Dirigent selber vielleicht nie das volle Potenzial seiner eigenen Musik ausschöpfen können. 

Das bringt der Vergleich mit einem der besten Stravinsky-Interpreten von heute, Valery Gergiev, deutlich ans Licht: Was steckt alles in diesen wenigen Minuten Musik, die wir hier vergleichen können – wie viel mehr Farben, wie viel größere Dynamik, welch eindrucksvollere Stimmungen, als Stravinsky selber hervorbringen konnte (oder sich getraut hat, herauszuholen) – was nicht heißt, dass er es im Geiste doch wusste. 

Stravinsky: (letzte drei Minuten, die mit Gergiev übereinstimmen) 

Stravinsky: 

Boulez: (etwas mehr auf die Struktur hin dirigiert als auf das Pathos, als bei Gergiev) 

Wir können daraus folgern, dass die Komponisten nicht zwingend die besten Interpreten ihrer eigenen Werke sind, sondern von Fall zu Fall sehr verschieden sein können. Und vielleicht beinhaltet ein Werk manchmal sogar noch mehr, als der Komponist selbst geahnt hat…!