20.05.2020
„Operndirigieren“ – die unsichtbaren Herausforderungen

Das Dirigieren in der Oper unterscheidet sich in mehreren Aspekten signifikant vom Dirigieren symphonischer Literatur: 

1) Die Distanz vom Dirigenten zum Sänger auf der Bühne ist größer als im Konzert 

2) Auf der Bühne wird auswendig gesungen 

3) Auf der Bühne wird gespielt, d.h. die Konzentration der Sänger liegt nicht ausschließlich auf den musikalischen Inhalten 

4) Der Verlauf der Aufführungen ist deutlich variantenreicher als bei Symphoniekonzerten: Die Sänger sind Tagesform-abhängiger als Instrumentalisten; je nach Bühnengeschehen kann die Sicht bei jeder Aufführung ganz anders sein (leicht andere Positionen auf der Bühne, Nebel etc.) 

5) Im Orchester sitzen jeden Abend andere Musiker, die Besetzungen dort wechseln über 6-8 Abende durch. 

Die Folgen sind eindeutig: 

1) Es ist viel unberechenbarer als im Konzert, was genau passieren wird, egal wie genau man geprobt hat. 

2) Der Dirigent muss noch klarer dirigieren als im Konzert, da er größere Distanzen überbrücken muss und sich nicht darauf verlassen kann, dass alle Musiker vor ihm wissen, wie es am Vorabend lief (weil sie zum Teil getauscht haben). Anders als vielleicht in der dritten Aufführung eines Symphoniekonzerts kann er nie „einfach laufen lassen“ 

3) Der Dirigent muss unglaublich schnell reagieren können. Beispiele: A) Ist ein Sänger heute schlechter bei Stimme, muss er das Orchester mehr dämpfen. B) Hat ein Sänger einen guten Tag und viel Luft, muss er die Tempi breiter nehmen oder bei Fermaten länger warten. C) Läuft die Szene auf der Bühne minimal anders, dreht sich eine Kulisse später oder früher oder tritt ein Sänger etwas langsamer oder schneller auf, kann das Folgen für das Tempo oder sogar die Dynamik haben. Von Pannen noch ganz zu schweigen. 

In einen Satz zusammengefasst: Der Dirigent im Graben muss das Unberechenbare berechenbar machen. Er muss so reagieren und vorausdenken, dass er bei allen Unwägbarkeiten trotzdem alle Beteiligten möglichst optimal mitnimmt und zusammenhält und dabei jederzeit die akustische Balance herstellen. 

Im heutigen Video lässt sich das hervorragend betrachten. Die Aufnahme ist die Dirigentenkamera im zweiten Akt von Wagners „Parsifal“ und zeigt durchgehend Daniel Barenboim am Pult im Graben (1992). 

Einige wenige besonders interessante Stellen möchte ich hervorheben: 

22:20 ff. Der folgende Chor steht anscheinend hinter der Bühne, deshalb muss das Orchester dynamisch ganz herunter (das ist eindeutig sichtbar) und Barenboim schlägt erstmal ganz geradeaus nur die Einsen, um über den Bildschirm hinter die Bühne das Tempo zu vermitteln. Den Rest übernimmt der Chordirektor oder Assistent hinter der Bühne

36:04-36:37 Einer der berüchtigten ausgeschriebenen Tempowechsel bei Wagner (schneller werden und wieder bremsen); das ist handwerklich sehr anspruchsvoll, das wohl zu dosieren und alle dabei zusammenzuhalten 

50:10-51:10 Eine besonders auffällige und höchst schwierige Stelle zum Reagieren. Man weiß nie, wie es der Sänger es an diesem Abend genau machen wird, muss es aber für das Orchester nachvollziehbar dirigentisch reaktiv umsetzen. Logisch, dass man danach (beim Weiterdirigieren!) ein Handtuch braucht… 

59:40 ff. Auch hier sieht man noch einmal bestens, wie Barenboim auf die Bühne reagiert, aber in gewisser Weise trotzdem führt. 

01:06:00 Den Schluss muss man auch erstmal in einer Geste so können 🙂


Das wohl genialste Operndirigat überhaupt und das noch bei einer der genialsten Passagen der Opernliteratur gibt es Gott sei Dank auch auf Video: 

Carlos Kleiber dirigiert das Terzett und Finale aus 3. Akt Rosenkavalier von Richard Strauss und hypnotisiert Bühne und Orchester gleichzeitig. Einfach zum Niederknien 🙂