09.06.2020
kleine Einführung in den „Schwanengesang“ von Franz Schubert

Ich schreibe zuerst eine allgemeine kleine Einführung, weiter unten folgt eine kurze Charakterisierung jedes einzelnen Liedes in Stichworten. 

Den „Schwanengesang“ hat ein Verleger nach Schuberts Tod aus Liedern zusammengestellt, die Schubert alle in seinem letzten Lebensjahr 1828 geschrieben hat. 

Die ersten sieben Lieder zu Texten von Ludwig Rellstab sind „ganz typischer Schubert“: Die Gedichte bieten weitestgehend klare sprachliche Bilder, die Schubert mustergültig in Musik umsetzt. Diese erste Hälfte thematisiert Liebesverlust und Liebessehnen auf romantisch-schwärmerische Art – teils freundlich, teils melancholisch. 

Die folgenden sechs Gedichte von Heinrich Heine sind deutlich schwerer greifbar und Schubert findet hier auch zu einer neuen Tonsprache. Ähnlich wie Mozart in seinen letzten Werken reduziert Schubert die Musik auf eine maximale Schlichtheit, erreicht damit aber eine noch größere Ausdruckstiefe. 

In dieser zweiten Hälfte findet Schubert einen Ton abgrundtiefer Verzweiflung, man könnte auch sagen: zunehmend pures Schwarz. 

Das letzte Lied, die „Taubenpost“ (Text: J.G. Seidl) ist am Ende ganz eigentümlich vom Verleger hinzugefügt worden, aber sehr klug gedacht (s.u.). Dieses Lied ist Schuberts letzte Komposition überhaupt. 

1) Liebesbotschaft 

Das Lied könnte auch aus der „Schönen Müllerin“ sein. Heiter im Ton, die dritte Strophe moduliert etwas düsterer. Viele Kleinigkeiten in der Begleitung vertont: Fließen des Bachs, „Ferne“, „Glut“, „versenkt“, Modulation bei „Träume“, „hängt“; „tröste“ etc. 

2) Kriegers Ahnung 

Alle vier Strophen sind ganz unterschiedlich charakteristisch vertont. 1. schwermütig; 2. träumerisch; 3. drängend/expressiv, 4. rasend/Rückkehr zum Anfang/düsteres Ende 

3) Frühlings-Sehnsucht 

Klares Strophenlied. Obwohl die Musik gleichbleibt (bis auf die letzte Strophe in Moll) muss man jede Strophe anders gestalten und Neues hervorheben; Rettendes Ende! 

4) Ständchen 

Sicher das bekannteste Lied der Sammlung. Die Schwierigkeit liegt darin, es geschmackvoll zu treffen, d.h. sehr ausdrucksvoll zu sein, ohne kitschig zu werden. Wenn das gelingt, ist es unfassbar schön. Eigentlich ist das Lied (wie auch das Heideröslein) sehr bedrohlich und bedrängend, was v. a. in der letzten Strophe deutlich wird. Das „lyrische Ich“ versucht sehr insistierend, das Liebchen zu verführen – was sie davon hält wird in der Begleitung deutlich. 

5) Aufenthalt 

Textlich eigentlich sehr drängend, gleichzeitig sehr statisch. Alles bewegt sich, aber dieses Bewegen verändert sich nicht: „ewig“, „unaufhörlich“. Die mittlere Strophe ist ein Ausflug ins Innere des Ichs

6) In der Ferne

Würde in die „Winterreise“ passen. Düster, fast monoton bis zur dritten Strophe. Jede Strophe steuert langsam auf ihren eigenen Höhepunkt zu und resigniert am Schluss (zweimal introvertiert, am Ende extrovertiert) 

7) Abschied 

Ähnlich wie Lied Nummer drei. Jetzt ist das Klavier das Pferd, das auch mal schnaubt oder wiehert. Es wird geritten, aber nicht galoppiert. Die letzte Strophe moduliert von Es-Dur nach es-Moll, über Ces-Dur bis Fes-Dur (8 bs!!!) und wieder zurück. 

8) Atlas 

Ganz neue Stimmung, sofort dramatischer, verzweifelter, unerbittlicher. Zweite Strophe sehr trotzig. Großer Kontrast zwischen „glücklich“ und „elend“ – letzteres gewinnt. 

9) Ihr Bild 

Ein Lied maximaler Schlichtheit, zwischen Einstimmigkeit und Choral. Kurz ist das „Lächeln“ aus dem Mundwinkel im Klavier hörbar. Tragisches Ende 

10) Das Fischermädchen 

Der einzige heitere Ausblick in dieser zweiten Hälfte. Sehr liebevoll und zart. „Fürchte Dich nicht zu sehr“ – aber ein bisschen schon! Am Schluss fährt das Fischermädchen im Klavier aber einfach unendlich weiter. 

11) Die Stadt 

Im Klavier wird ungefähr 30 Mal der exakt gleiche Takt wiederholt. Dazwischen zwei Exkurse, einmal piano, einmal ganz forte, furchtbar dramatisch, versinkt aber wieder im Nebel 

12) Am Meer 

Großartiger Anschluss an das vorherige Lied, das alleine liegende C wird in einen gespannten Akkord umgewandelt, der sich ergebend auflöst. Ungemein schlichter Choral, wird inhaltlich zunehmend schwärzer. 

13) Der Doppelgänger 

Nach der Entrücktheit und Düsternis des vorigen Liedes, sackt Schubert jetzt noch einen Halbton ab, das ist noch so ein unfassbar gelungener Übergang. Ganz statisch, so düster wie nur möglich. Die zweite Strophe bricht drastisch aus, die dritte führt dann auch über eine Temposteigerung zum Höhepunkt des ganzen Zyklus, dessen Zusammenbruch Schubert aber auch noch ausgestaltet. Ein sensationell fremder Akkord im kurzen Nachspiel, das den Anfang des Liedes aufgreift. 

14) Die Taubenpost 

Nach dem Doppelgänger ist eigentlich Schluss. Mich erinnert die Situation sehr an die „Johannespassion“ von Bach. Dort ist nach „Ruhet wohl“ eigentlich auch endgültig das Ende erreicht, doch Bach schließt mit „Ach Herr, lass Dein lieb Engelein“ noch einen bittenden, sehnsüchtigen Choral in ganz anderer Farbe an (nach c-Moll folgt der Choral in Es-Dur). Genau das macht Schubert auch, tonartlich nur in die andere Richtung, von h-Moll nach G-Dur. Ein transzendierendes Lied über die Sehnsucht, nach der finalen Düsternis vorher. Ein äußerst eindrückliches Ende! 

Unsere Aufnahme aus Friedrichshafen ist unter „Media“ zu finden.