05.05.2020
„historische Aufführungspraxis“ – Ausdruck und Effekt

In der Aufführungstradition der sogenannten „historischen Aufführungspraxis“, die mittlerweile schon auf eine 60-jährige Gesichte zurückblicken kann, gibt es zahlreiche Strömungen, die jeweils verschiedene Aspekte des Musizierens betonen: 

Variante 1) Man kann versuchen, das Musizieren zur Zeit des Komponisten zu imitieren: Das betrifft die Instrumente, die Besetzungen, die Säle etc. Ziel ist es, die Musik möglichst genau so zu spielen, wie sie zur Zeit des Komponisten erklungen haben mag 

Variante 2) Anhand von verschiedenen Quellen (Autographen, Abschriften, musikalischen Lehrwerken der Zeit, Rezensionen, Schülern etc.) versucht man zu verstehen, wie der Notentext gemeint ist, wie Dynamik, Artikulation, Verzierungen u.a. zu verstehen sind. Ziel ist die „inhaltlich korrekte“ Wiedergabe. Diese ist dann aber nicht an Instrumente und Säle gebunden (sie wird dadurch höchstens erleichtert), sondern die Absicht und der Gehalt des Werkes können auch mit modernen Mitteln getroffen werden. 

Variante 3) Die geschichtlich neueste Variante der „historischen Aufführungspraxis“ geht hauptsächlich auf die Wirkung der Musik ein. Wir wissen aus Zeugnissen, wie radikal und aufwühlend viele Meisterwerke der Musik zu ihrer Zeit gewirkt haben müssen. Heute sind diese Werke im Standardrepertoire und die Wirkung vielleicht abgenutzt. Um die ursprüngliche Wirkung wiederherzustellen muss man daher einige Schrauben weiterdrehen (und damit vielleicht überdrehen): Akzente überschärfen, Geräuschhaftes noch mehr betonen, Tempi weiter radikalisieren etc. Damit geht man oft über die Partitur hinaus, rechtfertigt das aber mit der zu erzielenden Wirkung. 

Meine persönliche Einschätzung möchte ich nicht verheimlichen: 

Variante 1) halte ich für interessant, aber für nicht realisierbar, da unklar ist, wie weit man mit der Imitation gehen kann oder muss (brauchen wir dann auch Originalkleidung und -Parfüm, wo kann man die Grenze sinnvoll ziehen?). Außerdem ist die Imitation höchstens museal bedeutend, da der Inhalt der Werke (Var. 2) und die Wirkung (Var. 3) nicht in den äußerlichen Entsprechungen zu finden sind. 

Variante 2) scheint mir die sinnvollste Herangehensweise zu sein. Man kann dem Komponisten nahekommen und seine Absichten verstehen und umsetzen, ohne sich dabei zwanghaft reduzieren zu müssen (1) oder extra zu übertreiben (3). Die Musik und ihr Ausdruck sind so stark, dass sie mit dieser Herangehensweise nie bloß historisch bleibt oder ihre Wirkung verfehlt. 

Variante 3) birgt sehr schnell die Gefahr der Karikatur. Wenn man alle Charakteristika der Musik überzeichnet, entstellt man den Inhalt zum Zweck der Wirkung. Das ist vielleicht vordergründig erfolgreicher und gilt als radikal und neu, allerdings nutzt es sich auch schnell ab und vereinheitlicht die verschiedenen Werke mit der Zeit: Überall ist das Forte dann ohrenbetäubend laute, das Piano ist fast unhörbar, die Akzente maximal geschärft, schnelle Tempi atemlos und Generalpausen überdehnt. Das ist durchschaubar und bald langweilig. 

Ich habe ein Video ausgewählt, in dem Nikolaus Harnoncourt Haydns Jahreszeiten unglaublich spannend und anschaulich probt und sein Vorgehen immer wieder wunderbar erklärt. Das Orchester, die Wiener Philharmoniker, spielen auf modernen Instrumenten und die Aufführung findet im Salzburger Festspielhaus statt, das Karajan nicht nach historischen Maßstäben und Vorbildern entworfen hat. Es singt der Wiener Staatsopernchor. 

Zentrale Fragen im Video: Wie geht man mit dem Metrum an, was bedeuten Tonarten, wie geht ein Regenschauer, wie geht Freude?

Als letzte Bemerkung möchte ich „sicherheitshalber“ noch einem Missverständnis vorbeugen, das vielleicht aus dem Video entstehen könnte: 

Um den Ausdruck zu treffen, muss man mit dem Rhythmus spielen können, manchmal Ungenauigkeiten riskieren und reinen Schönklang zugunsten des Ausdrucks aufgeben. Der umgekehrte Schluss ist aber nicht zulässig! Nur weil etwas unrhythmisch, schief oder hässlich gespielt wird, ist es dadurch noch lange nicht ausdrucksvoll oder gar historisch korrekt (auch eine Gefahr von Variante 3) 

Viel Freude also mit Harnoncourts großartiger Arbeit, ich kann nur wärmstens empfehlen, das Video ganz zu schauen!